Kolbenfresser ohne Schleifen reparieren
Nach einem Kolbenklemmer oder Kolbenfresser wählen viele in der ersten Verzweiflung den Weg in die Zylinderschleiferei und lassen auf das nächste Kolbenübermaß feinbohren und honen - verständlich, denn die Zylinderlaufbahn sieht oft verheerend aus. Für Youngtimer und Oldtimer sind neue Zylinder oft weder für Geld noch für gute Worte zu bekommen. Jedes Übermaß ist ein Meilenstein auf dem Weg in die Schrottkiste. Grund genug, jedes Aufbohren so lange hinaus zu zögern wie irgend möglich. Was aber tun, wenn großflächige Aluplacken in der Zylinderlaufbahn festgefressen sind?
Eine uralte Schrauberregel aus Zeiten, als Biker noch Motorradfahrer hießen und Kolbenklemmer insbesondere beim Einfahren fast normal waren, besagt, dass je schlimmer der Zylinder aussieht, die Chancen für eine Rettung ohne nächstes Übermaß um so größer sind. Man wusste sich zu helfen. Das "Wundermittel": Ätznatron. Es löst Aluminium auf, greift aber Stahl- und Grauguss-Legierungen nicht an.
Unter dem Schadstelle kommt nach dem Herauslösen der Aluminiumreste oft eine weitgehend intakte Zylinderlaufbahn zum Vorschein, die keiner weiteren Bearbeitung bedarf. Man montiert einen neuen Kolben und fährt mit dem alten Zylindermaß weiter, wobei vorher selbstverständlich die Ursache des Kolbenfressers zu erforschen und zu beseitigen ist, damit der Motor nicht gleich wieder festgeht. Das reicht von verstopften Tankbelüftungen über Dreck im Kraftstoffsystem mit entsprechend verstopften Düsen sowie Falschluft im Ansaugtrakt bis hin zu Schmierungsmangel.
Leichte Riefen in der Zylinderlaufbahn sind unbedenklich, damit läuft ein Motor noch ewig. Die Kilometerleistungen mit den alten Liebhaberfahrzeugen halten sich meist in Grenzen, und Vollgasorgien auf der Autobahn gehören nicht zu den bevorzugten Ritualen. Selbst von einer gewissen Unrundheit oder Konizität sollte man sich nicht beirren lassen. Solange der Kolben nicht klappert und die Kompression halbwegs stimmt, lässt sich die Lebensdauer alter Zylinder und Kolben erheblich strecken, sofern das Kolbenmaterial nicht ermüdet ist und Brüche zu erwarten sind.
Wird das Spiel zu groß, ist auch noch nichts verloren. Dank moderner Verfahren aus dem Rennsport lassen sich alte Kolben durch Auftragen einer hoch gleitfähigen Spezialschicht im Durchmesser um bis zu 0,15 mm vergrößern. Erich Bayer aus Bad Aibling führt die Beschichtung meisterhaft aus. Allerdings dürfen die Zylinderlaufbahnen keine frischen Hohnspuren aufweisen, sondern sie müssen sehr glatt sein, was mit 1200er Nassschleifpapier zu erreichen ist.
Hier die Anschrift: Baier Motor, Erich Baier, Münchner Str. 25, 83043 Bad Aibling, Telefon: (08061) 93 69 178, Mobiltelefon: 0171 44 52 870, Fax: (08061) 12 84, eMail: baier-motor-racing@web.de, Internet: http://www.baier-motor-racing.de/
Typisches Schadensbild nach einem Kolbenfresser. Der Kolben ist in einem solchen Fall nicht zu retten, wohl aber der Zylinder.
Im ersten Schritt ist die Zylinderlaufbahn gründlich von Schmutz und Fett zu reinigen. Bremsenreiniger und Aceton sind hier die Mittel der Wahl.
Wenn sich, wie in diesem Fall, großflächige Aluplacken in der Zylinderlaufbahn fest gefressen haben, dauert die Prozedur des Herauslösens durchaus 24 Stunden und länger. Also Geduld mitbringen. Die Zeit löst das Problem.
Ätznatron bekommt man in der Apotheke. Die Kügelchen werden in so wenig Wasser wie möglich aufgelöst. Dabei entsteht unmittelbar eine große Hitze. Daher eignen sich keine Glasbehälter, sie würden bersten. Das gelöste Ätznatron greift die Haut an und kann das Augenlicht zerstören. Es löst Pinselborsten auf und viele andere Materialien ebenfalls. Daher verwendet man zum Anrühren und Auftragen am besten Holzspatel, die ebenfalls in der Apotheke erhältlich sind.
Die Warnhinweise auf der Verpackung sind wirklich ernst zu nehmen. Verätzungen der Haut heilen sehr langsam und sind über lange Zeit schmerzhaft. Auch schützende Latexhandschuhe kann man beim Apotheker kaufen, die auch für andere Arbeiten an Oldtimern nützlich sein können, will man nicht immer mit "Trauerrändern" an den Fingernägeln herum laufen.
Die fertige Tinktur ist im frischen Zustand am aggressivsten. Ihre Wirkung lässt schnell nach. Es empfiehlt sich daher, keine großen Mengen auf Vorrat anzurühren.
Nach dem Auftragen der Tinktur schäumt das Aluminium auf, der Zersetzungsprozess beginnt. Dichtflächen kann man ein wenig einfetten, damit sie nicht angegriffen werden. Die Ätzwirkung zeigt sich in der Schaumbildung. Verbrauchte Tinktur entfernt man mit einem Papiertuch und trägt frische auf, so lange, bis das Aluminium restlos entfernt ist und kein weißer Schaum mehr entsteht.
Bis die Zylinderlauffläche nach einem Schaden wie hier im Bild gezeigt wieder blank ist, können durchaus 24 Stunden vergehen. Man muss nicht ständig frische Lösung auftragen, sondern kann die Arbeit durchaus über mehrere Stunden ruhen lassen. Das Ätzen schreitet auch dann voran, allerdings langsamer.
Dies ist nicht der gleiche Zylinder, es ist der selbe. Das Aluminium ist entfernt, und an der Zylinderlaufbahn ist von dem Schaden fast nichts mehr zu erkennen. Damit kann man unbesorgt weiter fahren, hat das Geld für die Zylinderschleiferei gespart und das nächste Übermaß vermieden. Es ist unnötig und sogar schädlich, die Zylinderlaufbahn mit Polierleinen zu bearbeiten, um Laufspuren zu beseitigen. Es erfolgt zwar nur ein geringer Materialabtrag, der aber entspricht der Laufleistung von tausenden Kilometern. Es bringt nichts außer dem trügerischen Schein einer schönen Lauffläche und schadet nur. Noch schlimmer ist das weit verbreitete „leichte Durchhonen“. Es ist der Drang, über eine schöne Optik den Eindruck technischer Perfektion zu erwecken.
In Wahrheit und aus technischer Sicht ist das Pfusch.
Auch in der Vergrößerung sind keine Schäden erkennbar, die ein Bohren und Honen auf das nächste Übermaß rechtferigen würden. Sollte das Laufspiel des Kolbens zu groß sein, lässt sich der Kolben mit einer speziellen Gleitschicht versehen. Ein beschichteter Kolben reduziert das Laufspiel. Mehr noch, der Kolben läuft ruhiger und leichter, und die Klemmneigung ist geringer. Die Kosten halten sich in Grenzen.
Text und Fotos: Heiner Jakob